Multimedia - Performance
Claudia Brieske
Beate Garmer
Elvira Hufschmid
Stoll
& Wachall
In der Abfolge der einzelnen Aktionen, die teilweise gleichzeitig
stattfinden, beziehen die Künstlerinnen eigene Positionen.
Standort und Impuls sind zwei Größen eines Gegenstandes,
die jedoch nicht zur gleichen Zeit mit Genauigkeit festgelegt werden
können, denn laut der Relativitätstheorie läuft der
gleiche Vorgang in verschiedenen Bezugssystemen unterschiedlich
ab. Man kann sich entweder der einen oder der anderen dieser Eigenschaften
zuwenden, dem einen oder dem anderen Bezugssystem. Jeder Wahrnehmung
liegt immer auch eine aktive, wenn auch meist unbewusste, Entscheidung
des Wahrnehmenden zugrunde. Wir sind beteiligt an dem was wir sehen.
Die Performance vereinigt vier unterschiedliche künstlerische
Positionen in einem nicht immer berechenbaren Zusammenspiel, das
dem Betrachter vielfältige Möglichkeiten der Lesart bietet.
Das verbindende Element ist die Bewegung im Raum, die Markierung
von Standorten und das Aufnehmen von Impulsen.
WAHRNEHMUNGSSTÖRUNGEN
von Horst Gerhard Haberl
Die an sich undarstellbare Differenz aus "Standort"
und "Impuls" zumindest flüchtig anschaulich zu machen,
ist das gemeinsame Ziel der fünf Medienkünstlerinnen,
die eine ehemalige Fabrikationshalle der Alten Baumwollspinnerei
in St. Ingbert zu einem temporären Therapiezentrum für
Wahrnehmungsbehinderte umfunktioniert haben. Ihre therapeutischen
Mittel beziehen sie aus ihren unterschiedlichen künstlerischen
Positionen. Sie inszenieren Störfälle an der Schwelle
des noch real Wahrnehmbaren, markieren die instabilen Nicht-Orte
unserer durch teleoptische und teleakustische Informationstechniken
ver- bzw. entrückten Scheinwelten, entwerfen die Nähe
und zugleich Ferne einer Innenwelt der Außenwelt bzw. deren
Umkehrung. Sie entschlüsseln das Paradoxon des rasenden Stillstandes
an Beispielen der Immobilität ferngesteuerter Handlungsabläufe
und entführen das Publikum aus dem bisher sichtbaren Horizont
in den von Paul Virilio so genannten "hindurch-sichtbaren"
Horizont, d.h. den letzten Horizont der Sichtbarkeit, der das Ergebnis
der digital generierten optischen (und akustischen) Verstärkung
der natürlichen Umwelt des Menschen ist.
Den für unsere Gegenwart charakteristischen Boden ohne Haftung
demonstriert Claudia Brieske mit ihren wörtlich zu nehmenden
Auftritten über eine Art Impulsechoverfahren, das minimal zeitverzögert
den elektroakustisch verstärkten Schall ihres Aufstampfens
mit dem Fuß auf Teile der gusseisernen Tragekonstruktion der
Halle sensorisch überträgt, diese über Lichtimpulse
erzittern lässt und damit scheinbar ins Wanken bringt. Um die
vielschichtigen Phänomene der nur mehr scheinbaren Mobilität
einer immobilen Tele-Gesellschaft sinnlich nachvollziehbar zu decodieren,
lässt Elvira Hufschmid ein ferngesteuertes, mit einer Miniaturkamera
bestücktes Miniaturauto weitläufig im Raum platzierte
Miniaturfiguren abfahren und deren dabei wechselnden Größenverhältnisse
ablichten. Die derart bewegten Momente permanent veränderter
und veränderbarer Perspektiven, die Austauschbarkeit von Nähe
und Ferne werden aber erst in der gleichzeitig ablaufenden Grossbildprojektion
"wirklich" erfahrbar. Den Verstärkereffekt einer
"Double Extension" aus dem fiktiv-autobiografischen Album
des Duos Klaudia Stoll & und Jacqueline Wachall setzt in lustvoller
Überzeichnung das live wie virtuell übertragbare Alltagsleben
doppelter, besser gesagt, unendlich variierbarer Identitäten
und Handlungsabläufe in Szene: Ein von den beiden (in wechselnden
Kostümierungen agierenden) Darstellerinnen durch die Halle
gerolltes Baugerüst, das als optische Projektionsfläche
für lasziv-doppeldeutige Gucklochbilder und als akustischer
Projektionskörper, aber auch als Requisitenlager den jetzt
real auszumachenden hindurch-sichtbaren Horizont (wie eine wahrnehmungsfördernde
Hilfskonstruktion) verkörpert. In diesem Verwirrspiel simultaner
Auftritte und Abgänge kurvt Beate Garmer als "blinde"
Skaterin durch diesen permanent wechselnden Ereignishorizont. Sie
kann im Gegensatz zu ihrem auf einem fahrbaren Untersatz installierten,
virtuell aufgezeichneten Monitor-Double als "sehende"
Skaterin nur ihren inneren Impulsen folgen oder durch äußere
Einwirkungen (etwa durch Zugriffe oder Zurufe aus dem Publikum)
aus der Enge ihrer sinnlichen Einschränkung entkommen. Aber
eine Spionkamera über ihren verbundenen Augen überträgt
den spontanen Blick des durch sie bewegten Raumes...
Allen Projekten gemeinsam ist einerseits der Prozess der Verschmelzung
von voraus aufgezeichneten Ereignissen und der live am "Standort"
gesetzten "Impulse", die den Standort zum Ort des Nicht-Orts
einer Teleaktion machen. Andererseits eröffnet das hier augen-
und ohrenscheinliche Aufzeigen der Schnittstellen zwischen dem sichtbaren
und dem hindurch-sichtbaren Horizont einen wesentlichen therapeutischen
Schritt zu einer differenzierteren Wahrnehmung unserer mittlerweile
informationstechnisch verstärkten, aber dadurch nicht immer
wirklich erweiterten Welterfahrung.
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